Der Großbrand von Schweizerhalle

Nur wenige Ereignisse aus meiner Kindheit brannten sich ins Gedächtnis. Nur wenige Ereignisse sind auch nach mehr als 30 Jahren bildlich präsent. Genauer gesagt erinnere ich mich an die Fernsehbilder, die einen rot gefärbten Rhein zeigen und Männer in Schutzanzügen, die tonnenweise tote Fische entsorgen.

1986 – das Jahr der Katastrophen. Der GAU von Tschernobyl und die Explosion der Raumfähre Challenger waren weit weg, jedenfalls bis zum 1. November 1986. An diesem Tag kam es zu einer Brandkatastrophe mitten im Herzen von Mitteleuropa: Schweizerhalle, Sandoz.[1] Die Beck’sche Risikogesellschaft konzentriert auf drei Ereignisse in einem Jahr.[2]

Halle 956 in Flammen

Kurz nach Mitternacht informiert eine Polizeistreife die Einsatzzentrale über einen Brand in der Lagehalle 956 im Industriegebiet Schweizerhalle bei Muttenz (Kanton Basel-Landschaft). Die Werkfeuerwehr löste Großalarm aus. Feuerwehren aus der Umgebung und die Berufsfeuerwehr aus dem benachbarten Kanton Basel-Stadt rückten an. Etwa 160 Feuerwehrleute löschten den Brand bis in die frühen Morgenstunden.

Eine übel riechende Wolke zog über die angrenzenden Gemeinden und Basel hinweg. Außer 1250 Personen mit Atemwegsbeschwerden und Augenentzündungen[3] durch Phospor-, Schwefel-, Stickstoff- und Kohlenoxyddämpfe kam es zunächst zu keinen Opfern. Weder Behörden noch Medien war die Tragweite der Brandes bewusst – wohl auch aus Rücksicht auf die Industrie.[4]

Der Rhein färbt sich blutrot

Was nach dem Brand folgte, war ein Schock für die Rheinanlieger. Mit den 15 Millionen Litern Löschwasser schwemmten 30 bis 40 Tonnen Schädlings- und Unkrautbekämpfungsmittel in den Rhein geschwemmt, darunter 34 verschiedene Giftstoffe, z. B. lebensgefährliche organische Quecksilberverbindungen. Am Brandplatz 8700 Kilogramm hochgiftige Pestizide und 134 Kilogramm Quecksilber unter einer Betonplatte zurück. Glück im Unglück: Ein Tank mit dem Nervengas Phosgen blieb unbeschädigt.[5]

Der Rhein ab Basel färbte sich rot (die Farbe selbst war ungiftig). Die Konzentration der Giftstoffe war so hoch, dass noch im Mittel- und Unterrhein Tausende Fische starben. Unter anderem fischten Helfer etwa 150.000 tote Aale aus dem Wasser. Das Trinkwasser entlang des Stroms wurde vorübergehend knapp. An manchen Stellen konnte bis zu drei Wochen lang kein Rheinwasser entnommen werden. Nach einer Woche erreichte der 70 Kilometer lange Giftteppich die Niederlande. Die Katastrophe erstreckte sich bis ins Wattenmeer. Betroffen waren damit mehr als 20 Millionen Menschen entlang des Rheins.

Tschernobale

Das Unglück von Schweizerhalle war der Medienstar unter den Chemiekatastrophen am Rhein – der rote Rhein und die toten Fische waren für die Medien geeignete Bilder. Diese bezeichneten das Unglück als „Tschernobale“ oder „Bhobale“ (Bale ist das französische Wort für die Stadt Basel). Zudem lag das Unglück in einer Zeit gesteigerter Sensibilität der Umwelt gegenüber. Der Brand und seine Folgen erschütterten den Glauben an die Sicherheit der chemischen Industrie. Der Rhein galt allerdings schon lange vor Schweizerhalle als Kloake. Erst diese Katastrophe trug den Gewässerschutz ins Bewusstsein von Politik und Öffentlichkeit. Gleichzeitig war er Anlass zum Umdenken im Störfallschutz.

Die Zeit heilt die Wunden

Zwei Jahrzehnte dauerte es, bis der Rhein sich erholte. Umfangreiche Sanierungs- und Schutzmaßnahmen hoben die Wasserqualität. Die Grundbelastung mit vielen Schadstoffen liegt mittlerweile um siebzig Prozent unter dem Niveau von vor der Katastrophe.

Einen wichtigen Beitrag zur Verringerung der Schadenswirkungen trug der Rhein selbst bei: im November 1986 führte er Niedrigwasser. Damit blieben die Seitenarme und Teile des Ufers von der Giftbrühe verschont. Ein starkes und lang anhaltendes Hochwasser im darauf folgenden Jahr spülte den Rhein kräftig durch und schwemmte viele Giftstoffe fort. 1992 zeigte der Rhein schon erste Anzeichen der Besserung.

Die Rückkehr der Lachse ist ein Symbol der Gesundung. Mit 63 Arten ist die Fischfauna des alten Rheins fast wieder komplett, lediglich der Stör hat es noch nicht ganz rheinaufwärts geschafft. Viele Fischarten sind wieder essbar. Nur der Aal zeigt noch hohe Schadstoffbelastung durch Dioxin und PCB und der Verzehr ist zu meiden.

Bei den am Rhein ansässigen Unternehmen gibt es inzwischen ein Bewusstsein für die Risiken und auch eine große Angst davor, negativ in den Schlagzeilen zu kommen. Deshalb wurden etwa 60 Milliarden Euro in Auffangbecken und Kläranlagen investiert. Das Wasser des Rheins wird besser als je zuvor überwacht.[6]

Allerdings beschäftigt das Unglück die Behörden noch immer. Der Brandplatz ist unzureichend saniert und das Trinkwasser ist nur durch aufwendige technische Einrichtungen sicher. Das Gelände ist noch immer kontaminiert und gilt nur deshalb inzwischen, als weniger belastet, weil die Grenzwerte angepasst wurden.[7]

Ursache

2000 behaupteten Journalisten, hinter dem Brand steckte die Stasi, um von Tschernobyl abzulenken.[8] Die Ursache ist bis heute nicht restlos geklärt. Zunächst galt das Schrumpfen einer Folie mit einem Gasbrenner als Ursache, die das auf der Palette gelagerte Berlinerblau[9] entzündete. Recherchen der Basler Zeitung legten 2017 nahe, dass die Zündquelle nicht eine chemische Reaktion war, sondern in der Halle neben selbstentzündbaren Chemikalien gelagerte Feuerwerkskörper. Diese hätten bei einer Abschiedsparty für den scheidenden Kommandanten der Feuerwehr abgebrannt werden sollen [sic!].[10]

Unzureichender Brandschutz

In der 4500 Quadratmeter großen Lagerhalle werden außer Berlinerblau auch 500 bis 1200 Tonnen Schädlings- und Unkrautbekämpfungsmittel gelagert. Obwohl der ursprüngliche Zweck der Halle die Lagerung von Apparaten war, werden ab 1979 agrochemische Produkte und Chemikalien aufbewahrt. Außerdem hatte die Halle völlig ungenügende Brandschutzanlagen und keine Rückhalte- und Auffangbecken.

Feuerwehrleute verurteilt

Nach der Brandkatastrophe wurden zwei Feuerwehrleute verurteilt, die Löschwasser in den Rhein leiteten. Der Firmenleitung von Sandoz war keine Verantwortung nachzuweisen. Sandoz zahlte 98 Millionen Franken Sanierungskosten und 43 Millionen (27 Millionen Euro) Franken Schadensersatz an die betroffenen Länder.[11] Außerdem stellte die Firma damals 10 Millionen Franken für Forschungszwecke zur Verfügung. Die Firma verlagerte die Produktion kurzerhand nach Asien[12] – andere Länder, andere (Umwelt-)Vorschriften.

Fußnoten

[1] Wikipedia: Grossbrand von Schweizerhalle https://de.wikipedia.org/wiki/Grossbrand_von_Schweizerhalle zuletzt abgerufen am 26.10.2018

[2] Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1986. Vgl. Wikipedia: Risikogesellschaft https://de.wikipedia.org/wiki/Risikogesellschaft

[3] Franz Schmieder „Seit der Sandoz-Katastrophe ist der Rhein sauberer geworden“ in Badische Zeitung online vom 31.10.2016. http://www.badische-zeitung.de/seit-der-sandoz-katastrophe-ist-der-rhein-sauberer-geworden abgerufen zuletzt am 26.10.2018.

[4] Vgl. Simon Erlanger „Schweizerhalle: Hansruedi Striebel wehrt sich“ in telebasel online vom 30.10.2016 https://telebasel.ch/2016/10/30/schweizerhalle-hansruedi-striebel-wehrt-sich/ zuletzt aufgerufen am 26.10.2018 und Dominique Spirgi „«Sorry für alli die, wo gärn gschpiilt hätte» – Die unrühmliche Rolle der Basler Medien“ in TagesWoche online vom 31.10.2016 https://tageswoche.ch/gesellschaft/sorry-fuer-alli-die-wo-gaern-gschpiilt-haette-die-unruehmliche-rolle-der-basler-medien/ zuletzt abgerufen am 26.10.2018

[5] Franz Schmieder „Giftwolke über dem Dreiländereck“ in Badische Zeitung online vom 31.10.2016. http://www.badische-zeitung.de/suedwest-1/giftwolke-ueber-dem-dreilaendereck–129251349.html zuletzt abgerufen am 26.10.2018.

[6] Susanne Schanda „Der Rhein hat sich von „Schweizerhalle“ erholt“ in SWI swissinfo.ch vom 31.10.2006. http://www.swissinfo.ch/ger/der-rhein-hat-sich-von–schweizerhalle–erholt/5521976 zuletzt abgerufen am 26.10.2018.

[7] Daniel Haller „Die Folgen von Schweizerhalle sind noch nicht ausgestanden“ in Basellandschaftliche Zeitung online, 3.11.2016. https://www.basellandschaftlichezeitung.ch/basel/baselbiet/die-folgen-von-schweizerhalle-sind-noch-nicht-ausgestanden-130689343 zuletzt abgerufen am 26.10.2018.

[8] «Schweizerhalle war Brandstiftung» in Tages-Anzeiger vom 1.11.2011 https://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/Schweizerhalle-war-Brandstiftung/story/23254118 zuletzt abgerufen am 26.10.2018.

[9] Berlinerblau (Pariser Blau, Eisencyanblau, Turnbulls Blau, Bronzeblau) war der erste moderne synthetische Farbstoff. Es ist ein lichtechtes, tiefblaues, mineralisches Pigment. Der Stoff glimmt über 12 Stunden rauchlos ohne Brandgeruchsemmissionen. Setzt man den Stoff hohen Temperaturen (über 140 °C) aus, können als Zersetzungsprodukte Blausäuredämpfe und Ammoniak entstehen. Der Stoff ist unter der Wassergefährdungsklasse 1 und somit als schwach wassergefährdend eingestuft. Er wird auch für den menschlichen Körper als untoxisch eingestuft.

[10] „Auszeichnung für Recherche zu Schweizerhalle“ in BAZ online am 16.05.2018. https://bazonline.ch/basel/land/auszeichnung-fuer-recherche-zu-schweizerhalle/story/20421687 zuletzt aufgerufen am 26.10.2018.

[11] „«Schweizerhalle» nach 30 Jahren noch nicht abgeschlossen“ in BAZ online vom 1.11.2016. https://bazonline.ch/basel/land/schweizerhalle-nach-30-jahren-noch-nicht-abgeschlossen/story/23898319 zuletzt aufgerufen am 26.10.2018

[12] Wolfgang Messner „Als der Rhein so rot wie tot war“ in Stuttgarter Zeitung online vom 31.10.2011 https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.sandoz-katastrophe-als-der-rhein-so-rot-wie-tot-war.ae2daf5a-d020-49eb-abec-bf871fd330fc.html zuletzt abgerufen am 26.10.2018