Ein Kolumne von Stefan Cimander

3. Dezember 1999, Worcester/Massachusetts (USA), sechs Feuerwehrleute sterben beim sogenannten „Cold Storage Warehouse Fire“. Auf der Suche nach in dem leer stehenden KĂŒhlhaus schlafenden Obdachlosen verirrte sich der vorgehende Trupp. Bei der eingeleiteten Rettungsaktion verliefen sich zwei weitere Trupps. Alle sechs Feuerwehrleute konnten das GebĂ€ude nicht mehr rechtzeitig verlassen und starben an Rauchgasvergiftungen und Verbrennungen.1 Einsatztaktische Fehler und Kritik am vorbeugenden Brandschutz an dieser Stelle außen vorgelassen, soll es um eine gesellschaftliche Tendenz gehen, die die Feuerwehren hierzulande zukĂŒnftig stĂ€rker treffen und belasten wird und der den Kreis zum tragischen UnglĂŒck von Worcester schließt.

Die Rede ist von der zunehmenden Wohnungslosigkeit in Deutschland, die sich, schenkt man den neuesten Statistiken glauben, tief in die Mittelschicht frisst.2 Damit einher geht die steigende Obdachlosigkeit.3 Leer stehende GebĂ€ude, egal welcher Art, werden nun noch hĂ€ufiger und von noch mehr Personen als Unterschlupf genutzt. Das hat Folgen fĂŒr die Einsatztaktik der Feuerwehr. Gerade in grĂ¶ĂŸeren StĂ€dten, in denen eine angespannte Situation auf dem Wohnungsmarkt herrscht, ist bei jedem Brandereignis in dem angesprochenen GebĂ€udetyp mit der Belegung durch Unterschlupf suchenden Personen zu rechnen. Die Feuerwehr steht natĂŒrlich vor dem Problem, zu entscheiden, ob sie nun Feuerwehrangehörige zum Absuchen in das GebĂ€ude schickt oder nicht. FĂŒr die zuerst eintreffende FĂŒhrungskraft gilt es nun unverzĂŒglich auf die Details zu achten, die auf Personen im GebĂ€ude hinweisen. Gibt es aufgebrochene TĂŒren und Fenster? Sind Absperrmaßnahmen in einer bestimmten Weise verĂ€ndert? Stehen Personen auffĂ€llig in der NĂ€he? Wissen die Nachbarn etwas? Ist der Polizei etwas bekannt? Ähnlich wie im Falle von vermuteten Terrorlagen4, muss auf kleinste Nuancen geachtet werden. Ansonsten gilt wie immer: Erkundung, Erkundung, Erkundung.

Doch ist das bei Weitem nicht das einzige PhĂ€nomen, mit dem wir uns in unserer (vermeintlich) wohlstandsgesĂ€ttigten Gesellschaft als EinsatzkrĂ€fte konfrontiert sehen. Elendslager und – sehr euphemistisch und den Charakter der Not verbergend – wildes Campen nehmen augenscheinlich auch in Deutschland zu5, auch wenn man das durchaus (regional) differenziert betrachten muss und nicht mit Slums oder den Favelas vergleichen kann. Bei BrĂ€nden sind diese Behausungen fĂŒr EinsatzkrĂ€fte dennoch ein Problemfall, denn weder ist etwas ĂŒber die Anzahl der Bewohner bekannt, noch werden diese mit der Feuerwehr kommunizieren, sei es aufgrund von Scham, sprachlicher Barrieren oder Angst vor dem „Staat“. Mit rascher Brandausbreitung, das versteht sich von selbst, ist aufgrund offener Feuerstellen und des Fehlens von vorbeugenden Brandschutzmaßnahmen auszugehen.6 Als Schlafplatz benutzte ObjektzugĂ€nge sind da schon eher das kleinere Problem.

Richtet man den Blick von der Obdach- mehr auf den Aspekt der Wohnungslosigkeit, werden extrem ĂŒberbelegte Wohnungen zum Normalzustand. Hauptsache ein Dach ĂŒber dem Kopf. Ein Brand wird hier schnell zu einem MANV. Ebenfalls zieht es immer mehr Menschen in Industrie- und Gewerbegebiete, Gebiete, in denen die Feuerwehr bisher hoffte, auf grĂ¶ĂŸere Evakuierungsmaßnahmen verzichten zu können, wenn es zu StörfĂ€llen kommt. Die Feuerwehr wird zukĂŒnftig also immer öfter auf Menschen treffen, wo diese eigentlich nicht oder nicht in hoher Anzahl „hausen“ sollten.

Schaut man sich die Feuerwehren und deren Zusammensetzung an, fĂ€llt auf, dass das Gros der ehrenamtlichen Helfer aus der Mittelschicht (auch wenn das soziologisch nicht mehr ganz zutreffend ist) stammt, die nun von der Wohnraumproblematik besonders betroffen sind. Speziell junge Menschen und Familien trifft es knĂŒppeldick – die beiden Reservoire, aus denen sich in der Feuerwehr der Großteil der Helfer rekrutiert.7 Wer keine bezahlbare Bleibe findet, zieht dorthin, wo er sich das Leben leisten kann und pendelt. Die Nachteile dieser Entwicklung sind klar: Im Wohnort befindet man sich sozusagen nur mehr zum Schlafen, den Rest der Zeit ist man im Auto oder in der Bahn. Und weil FlexibilitĂ€t eine moderne Tugend ist, bleibt keine Zeit mehr fĂŒr das Ehrenamt. FĂŒr die freiwillige Feuerwehr eine katastrophale Entwicklung – sie rĂŒckt immer seltener oder gar nicht mehr aus, egal ob Stadt oder Land.

Die erste Maßnahme: Man initiiert eine Werbeaktion mit bunten Flyern, lustigen Aktionstagen oder rĂŒhrseligen Imagefilmen. Nur wird das alles verpuffen, weil das Problem bestehen bleibt, sofern man nicht Besitzer einer eigenen Immobilie ist. Wer keinen bezahlbaren Wohnraum findet, der lĂ€sst sich nicht mit Werbeaktionen beeindrucken – die Feuerwehr Erding kommuniziert das als eine der wenigen Feuerwehren ganz offen.8

Pauschal fĂ€llt dann oft die Phrase „Dann gibt es eben eine Berufsfeuerwehr“, ohne sich der finanziellen Konsequenzen bewusst zu sein. Rechnen wird sich diese Einrichtung ohnehin nur in den (grĂ¶ĂŸeren) StĂ€dten. Aber löst der hauptberufliche Feuerwehrangehörige das Problem? Auch er muss irgendwo wohnen, seine Familie ernĂ€hren und wird angesichts der Bezahlung im öffentlichen Dienst ebenfalls schnell auf der Suche nach bezahlbarem Wohnraum sein.9 Auch er wird unter UmstĂ€nden lange Wegstrecken pendeln mĂŒssen, sofern diesem durch Residenzpflicht nicht ohnehin ein Riegel vorgeschoben ist. Das bedeutet: Auch dieser Feuerwehrmann wird mir unter UmstĂ€nden nicht zeitnah bei einem „Wachalarm“ oder Ähnlichem zur VerfĂŒgung stehen.

>Pendeln bedeutet Stress10 und was Stress fĂŒr Mitarbeiter in sicherheitskritischen Bereichen – dazu zĂ€hle ich explizit auch die Feuerwehren – ausrichten kann, muss man nicht ausfĂŒhren. Feuerwehrangehörige sind nicht aus Teflon, egal ob Haupt- oder Ehrenamt.

Die Situation der Feuerwehren ist durchaus vergleichbar mit der von Unternehmen, die auf der Suche nach FacharbeitskrĂ€ften sind. Hohe GehĂ€lter als Lockmittel funktionieren hier nur noch bedingt, und wenn, dann nur kurzfristig, so lange, bis die Mieten und Lebenshaltungskosten nachziehen. Bestes Beispiel ist hier San Francisco, dessen NĂ€he zum Silicon Valley die Wohnraumkosten derart explodieren ließ, dass sich selbst die gut bezahlten Tech-Arbeiter des Digital Business eine eigene Wohnung nicht mehr leisten können.11 Geld oder sonstige Incentives sind nicht die Lösung.

Was also tun? Die Politik scheint hinsichtlich Wohnungspolitik macht- und bisweilen willenlos und schafft mit ihren EinfĂ€llen nicht nur eine neue BĂŒrokratie, sondern verschĂ€rft unbewusst die Situation. Die neoliberalen Entscheidungen der 1980iger Jahren und fatale FehleinschĂ€tzungen in Bezug auf den Wohnraumbedarf rĂ€chen sich nun bitter. Das alles klingt nach der RĂŒckkehr der guten alten Dienstwohnung. Das mag ein kleines Instrument sein, lĂ€sst sich aber flĂ€chendeckend nicht umsetzen und bringt eine ganze Reihe von neuen Problemen mit sich und wĂŒrde lediglich die Not der hauptamtlichen Retter lindern. Dem Ehrenamt muss auf anderem Weg geholfen werden. Die Forcierung des „sozialen Wohnungsbaus“ durch die Kommunen ist nur ein Tropfen auf dem heißen Stein – wenn die Wohnung nicht wenige Jahre spĂ€ter aus der Förderung fĂ€llt12 oder entsprechende Bundesmittel ĂŒberhaupt abgerufen werden – rechtlich dĂŒrfte es eher anspruchsvoll sein, derartige Wohnung an ehrenamtliches Engagement zu knĂŒpfen.

Andererseits wird man nicht mĂŒde zu betonen, dass der Markt das Problem selbst regeln soll. Man sieht ja, wie er sich selbst regelt – ohne jetzt wie ein „sozialromantischer Redner“ klingen zu wollen, aber eine soziale Dividende gibt es nicht – was zĂ€hlt, ist die Rendite. Brennt meine Shareholder-Bude, erwartet man schnelle Hilfe, schließlich gibt es ja die Feuerwehr. Bisher kam die ja auch immer pĂŒnktlich. Blöd nur, wenn die örtliche Feuerwehr mangels Angehöriger nicht ausrĂŒcken bzw. nicht viel ausrichten kann oder aber sehr lange Anfahrtswege hat. Im Zweifel zahlt die Versicherung und die Gemeinde verklagt man einfach.

Vielleicht aber fĂŒhrt der Weg ĂŒber die Versicherung zum Ziel. Versicherungsrabatte fĂŒr den, der Personen aus dem Umfeld der öffentlichen Daseinsvorsorge (an dieser Stelle bewusst breit formuliert) bevorzugt in seiner Immobilie wohnen lĂ€sst. Andererseits ist auch das ein stumpfes Schwert, denn die BeitrĂ€ge fĂŒr Versicherungen werden auf die Wohnnebenkosten umgelegt. Das Modell Schweiz13 könnte man als Beispiel auffĂŒhren, aber auch hier funktioniert das System nicht mehr reibungslos.

Am Ende steht der Zusammenbruch der öffentlichen Daseinsvorsorge und die schlimmsten BefĂŒrchtungen werden wahr: Geholfen wird nur noch dem, der dafĂŒr extra zahlt!14 „Der Mammon wird am Ende alles verschlingen“ – was ist uns Hilfe wert, wenn die, die helfen wollen, nicht dĂŒrfen, weil sie nicht am Ort wohnen können. Schließlich werden es irgendwann die sein, die von Nacht zu Nacht auf der Suche nach einem Schlafplatz sind, die mit den Feuerwehrfahrzeugen ausrĂŒcken mĂŒssen.

Fußnoten

1 Siehe hierzu den Wikipedia-Artikel „Brand im Worcester Cold Storage and Warehouse 1999“ https://de.wikipedia.org/wiki/Brand_im_Worcester_Cold_Storage_and_Warehouse_1999 sowie den Eintrag in der Unfalldatenbank bei atemschutzunfaelle.eu https://www.atemschutzunfaelle.de/unfaelle/us/1999/u19991203-worcester.html
3 Zur Unterscheidung zwischen Obdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit sowie einer AufschlĂŒsselung der beiden Aspekte siehe http://www.bagw.de/de/themen/zahl_der_wohnungslosen/index.html
4 Siehe hierzu „S-pezieller E-insatzlagen R-eport. Rezension von Besch et al. Spezielle Einsatzlagen“ /2017/11/23/s-pezieller-e-insatzlagen-r-eport/
5Gisela Gross „Roma im Regierungsviertel – Slums mitten in Berlin“ https://www.welt.de/vermischtes/article154591687/Roma-im-Regierungsviertel-Slums-mitten-in-Berlin.html vgl. „Slums in Deutschland? Nein, aber …“ http://www.dw.com/de/slums-in-deutschland-nein-aber/a-41842217
6 Vgl. Andreas RĂŒesch „Migrantenlager nach Unruhen abgebrannt“ https://www.nzz.ch/international/fluechtlinge-in-frankreich-migrantencamp-nach-unruhen-abgebrannt-ld.1085580
7 Siehe generell zum freiwilligen Engagement in Deutschland: Julia Simonson, Claudia Vogel & Clemens Tesch-Römer „Freiwilliges Engagement in Deutschland. Zusammenfassung zentraler Ergebnisse des Vierten Deutschen Freiwilligensurveys“ (2014)
13 Kurz gesagt besteht in der Schweiz in der Regel die Feuerwehrpflicht, von der man sich allerdings freikaufen kann.

Danksagung

An dieser Stelle noch ein kleines Dankeschön fĂŒr den Input, den ich von einigen Lesern ĂŒber Twitter und vom Mieterverein Bodensee bekommen habe.

Off Topic

An jedem ersten Dienstag im Monat erscheint eine Kolumne im Feuerwehr Weblog. Begonnen hat dies am 6. September 2016. Gerne dĂŒrfen auch unsere Leser ein Thema aufgreifen und uns einen Text zusenden, gleichzeitig versuche ich (namhafte) Feuerwehrangehörige oder der Feuerwehr nahe stehenden Personen hierfĂŒr zu gewinnen. Da wir ein privates, nicht-kommerzielles Medium sind, bleiben als Belohnung nur der Ruhm, die Anerkennung und die Meinungsfreiheit. Überlegt es euch.