Rezension von Matthew Mathers Cyberstorm

Mike Mitchell ist ein durchschnittlicher New Yorker, der mit seiner Frau und seinem Sohn in einem Apartmenthaus in Manhattan wohnt, der das Leben relativ gelassen sieht und wenig besorgt über mögliche Katastrophen scheint. Ganz im Gegensatz dazu hortet Mikes Nachbar Chuck Lebensmittel, Trinkwasser und allerlei technische Apparate, die ihm im Falle eines Unglücks sein Überleben sichern sollen. Mike belächelt die Anstrengungen, muss jedoch bald erkennen, dass sein Nachbar nicht ganz unrecht hat. Kurz vor Weihnachten fällt der Strom aus. Kein Strom bedeutet, keine Heizung, kein warmes Essen, kein fließendes Wasser und eine nach und nach zusammenbrechende, öffentliche Versorgung. Noch dazu bricht ein Schneesturm über New York herein. Es gelingt über Wochen hinweg nicht, die Stromversorgung wiederherzustellen, und das, während die Temperatur fällt und der Kontakt nach außen weitgehend abgebrochen ist. Die Katastrophe ist perfekt.

Spoiler ahead! Die spärlichen Informationshappen lassen erahnen, dass die USA in einen Cyberkrieg verwickelt wurden, der nicht nur die öffentliche Infrastruktur, sondern auch das Militär betrifft. Chuck und Mike richten sich so gut es geht in ihrem Apartmenthaus ein, müssen jedoch nach Wochen erkennen, dass, wenn sie überleben wollen, sie raus aus dem wegen Krankheitsausbrüchen abgeriegelten Manhattan müssen. Mit einer List gelingt ihnen die Flucht. Ihr Ziel: das volleingerichtete Wochenendhaus von Chuck nahe Washington DC. Dort angekommen, müssen die beiden Familien ebenso um das Überleben kämpfen und letztlich in den Wäldern nach Nüssen, Beeren und Wildtieren Ausschau halten. Schließlich bricht Mike nach Washington auf, in der Hoffnung, dort auf geordnete Verhältnisse zu stoßen, was auch zutrifft. Allerdings, und das missinterpretiert Mike, nimmt er eine chinesische Invasion an – weil dies die einzigen Soldaten sind, die er identifizieren kann. Dass es sich um humanitäre Hilfe handelt, die auch durch europäische Truppen gewährt wird, erfahren Chuck, Mike und der Leser erst ganz am Schluss.

Cyberangriff als reale Gefahr

Was passiert, wenn eine Cyberattacke auf die kritischen Infrastrukturen eines Staates stattfindet? Was passiert, wenn diese Attacke die Stromversorgung außer Kraft setzt? Wie reagieren die Menschen? Wie werden die Menschen versorgt? Wie hält der Staat die Ordnung aufrecht? Abwegig sind Cyberattacken nicht mehr: Estland 2007, Südkorea 2013, Deutscher Bundestag 2015, die Gefahr ist fassbar. Deshalb ist die Kategorisierung von „Cyberstorm“ als Science-Fiction falsch.

Widmete sich Marc Elsberg in seinem Techno-Thriller „Blackout“[1] eher den behördlichen Abläufen und den Auswirkungen eines zweiwöchigen, europaweiten Stromausfalls, beschreibt Matthew Mathers die Geschehnisse in New York über Monate hinweg, nachdem die kritischen Infrastrukturen infolge mehrerer Cyberangriffe mitten im Winter ausfallen.

Blasse Charaktere

Cyberstorm ist aus der Ich-Perspektive von Mike geschrieben. Das macht einige der beschriebenen Geschehnisse zwar greifbarer und eindrücklicher, weil man näher am Charakter ist, dennoch bleibt Mike sehr blass gezeichnet, wenig sympathisch, dilettantisch und naiv. Die Charakterisierung ist insgesamt verbesserungswürdig, selbst die Hauptprotagonisten werden nur rudimentär beschrieben und wirken eintönig und statisch. Während Mike durchweg als kindlich rüberkommt, macht Chuck einen paranoiden Eindruck. Warum sich Chuck außerdem auf den Zusammenbruch vorbereitet hat, bleibt nebulös.

Gewalt und Altruismus

Mathers beschreibt die unterschiedlichen Stadien des öffentlichen Zusammenbruchs, des Zurückweichens der öffentlichen Sicherheitskräfte und der Bildung lokaler Gemeinschaften, die entweder mit Waffengewalt ihr Überleben sichern, oder, so wie in dem Apartmenthaus von Mike und Chuck, versuchen möglichst autark zu bleiben. Dem bewaffneten Mob stellt Mathers den Altruismus gegenüber, der insbesondere von Mike ausgeht. Neben dem Errichten einer eigenen Gemeinschaft hilft Mike auch außerhalb des Hauses, wo er kann. Sein Versuch die Zivilisiertheit auch in der Katastrophe aufrechtzuerhalten, wird dabei nicht von allen gewürdigt und er bezahlt dies fast mit seinem Leben.

Kein Strom, ein Chaos

Die Auswirkungen eines lang anhaltenden Stromausfall beschreibt Mathers eher beiläufig, als Teil des Settings der Geschichte von Mike: brennende Hochhäuser durch unsachgemäßen Umgang mit offenem Feuer; das Problem der Entsorgung von Fäkalien; Ausbruch von Krankheiten; Trinkwasser- und Lebensmittelbesorgung; Bildung von Mobs und bewaffneten Überlebensgemeinschaften. Diese Probleme sind bekannt, wie auch die menschlichen Verhaltensweisen in Stresssituationen. In dieser Lesart schreibt Mathers also nichts wirklich Neues.

In der Not frisst der Teufel Fliegen

In gewisser Hinsicht geht Mathers in seinen Beschreibungen jedoch konsequent weiter, als z.B. Marc Elsberg oder Peter Schwindt[2], wenn er Themen wie Kannibalismus (es Verschwinden plötzliche Leichname) oder das Trinken von Blutkonserven als Überschreiten der Grenze der Zivilisiertheit im Angesicht der Katastrophe beschreibt.

Ein nicht unwesentlicher Aspekt sind die körperlichen Auswirkungen, die Mangel und Stress auf Personen haben. Mike konstruiert sich seine Realität, sieht Dinge, die er für plausibel hält, die aber nichts weiter als selektive Wahrnehmungen sind. Den Aspekt der körperlichen Folgeerscheinungen von Nahrungsmangel hätte Mathers sicherlich etwas vertiefen können.

Informationsdefizite

Weit interessanter ist der Aspekt der fehlenden Informationen. Ohne Strom funktioniert die Informationsversorgung ebenfalls nicht zuverlässig, Informationen haben aber Rückwirkungen auf das Verhalten der Menschen. Ohne gesicherte Informationen entstehen allerlei Verschwörungstheorien und abstruse Geschichten. Die Protagonisten behelfen sich, indem sie mit ihren Smartphones ein Mesh-Netz errichten, das sowohl der Point-to-Point-Kommunikation, als auch der Überwachung dient. Und hier wird es im Kontext (auch zur Gegenwart) richtig diskursiv. Mike und Chuck tauschen sich über Freiheit und Überwachung durch den Staat aus, negieren ihre Vorbehalte gegen staatliche Maßnahmen jedoch durch eigenes Handeln: Sie überwachen die eigenen Nachbarn.

Fazit

Mathers schreibt nichts wirklich Neues. Die Probleme, die durch einen lang anhaltenden Stromausfall entstehen, sind bekannt und in der Literatur in verschiedenen Varianten durchgespielt. Bei Mathers ist nur alles noch größer (Handlungsort Manhattan), noch krasser (Kannibalismus) und die Ursache allen Übels sind Cyberangriffe. Allerdings spielt Mathers geschickt mit dem Gerücht eines chinesischen Angriffs auf Amerika und er bringt mit dem selbst errichteten Kommunikationsnetz einen weiteren Aspekt unter dem Punkt Selbsthilfe ein. Interessant ist auch die Erwähnung, dass die in Amerika teilweise desolate öffentliche Infrastruktur einer schnellen Reparatur im Wege steht. Zum Schluss hin werden die Erzählabstände länger, die Handlung ist geraffter und verliert an Dramatik. Das ist schade, denn das macht das Buch zum Ende hin vorhersehbar.

Bibliografische Daten

Matthew Mather: Cyberstorm. Übersetzung aus dem Amerikanischen von Norbert Stöbe. Deutsche Erstausgabe. München: Heyne 2014. 445 S., kartoniert, ISBN 978-3-453-53470-4, EUR 9.99.-


[1] Siehe die Rezension von Marc Elsbergs Trhriller „Blackout“ im Feuerwehr Weblog.

[2] Siehe die Rezension von Peter Schwindts Roman „Schwarzfall“ im FWNetz.