Eine Kolumne von Florian Besch

Feuerwehrmann als optisches Bild und Darstellung im Display einer WBK

Lasst uns heute mit einer relativ einfachen Frage anfangen. In welchem Rhythmus erfolgen bei der Herz-Lungen-Wiederbelebung die Herzdruckmassage und die Beatmungen? „30:2“ wird jetzt der Leser direkt antworten und gleich ergänzen „aber früher haben wir x:y gedrückt“. Je nach dem, welche Werte bei x und y eingesetzt werden, kann man bequem das Alter des Helfers abschätzen, spätestens, wenn er erzählt, dass es einen Unterschied macht, ob man mit einem oder 2 Helfern reanimiert.

Dieses Spiel kann man jetzt mit einigen anderen Fragen rund um das Thema (Auffinden des Druckpunktes, initiale Atemkontrolle, initiale Atemspende) fortsetzen und immer wird ein Teil der Antwort sein „wobei früher hat man …“.

Warum ist das so? Und was hat das alles mit Feuerwehr zu tun?

In Europa gibt es den Europäischen Rat für Wiederbelebung, die ERC[1] mit ihren einzelnen Fachgesellschaften in den Ländern, in Deutschland ist das die GRG[2]. Zusammengefasst haben sie ein Ziel „Aufklärung, Ausbildung und Forschung auf dem Gebiet der Wiederbelebung“.

Dazu werden konsequent Forschungsarbeiten ausgewertet und alle 5 Jahre die sogenannten „Guidelines“ veröffentlicht. Dabei kann es passieren, dass Maßnahmen, die vor 5 Jahren noch als hocheffizient empfohlen wurden, auf einmal out sind oder Maßnahmen, die eigentlich schon in der Mottenkiste lagen, wieder einen höheren Stellenwert haben. Und das alles nur, weil es die aktuelle Datenlage hergibt.

Dieses Verfahren nennt man evidenzbasierte Medizin[3], d.h. man führt Maßnahmen durch, von denen man einen bewiesenen Nutzen hat.

Diese Guidelines werden dann auch in der Fläche – meistens relativ zeitnah – umgesetzt. Sei es dass „Standard Einsatz Regeln“ (im Rettungsdienst auch Verfahrensanweisungen genannt) aktualisiert werden oder dass die Mitarbeiter selbstständig gemäß dieser Richtlinien arbeiten. Denn immerhin stellt dies den Stand der Technik dar.

Und wie sieht es bei der Feuerwehr aus? Mit welchem Stand der Technik wird dort gearbeitet? Schauen wir uns doch mal ein Beispiel an.

Die allseits beliebte Hilfsfrist. Wie ein Heiligenschrein wird dieser Wert von den Feuerwehren Land auf, Land ab vor sich hergetragen. Sie ist Kern von fast allen Planungen. Grundlage dafür ist die „Empfehlung der Arbeitsgemeinschaft der Leiter der Berufsfeuerwehren für Qualitätskriterien für die Bedarfsplanung von Feuerwehren in Städten“. Diese wurde 1998, also gut 20 Jahren veröffentlicht. Eine Fortschreibung von 2015 findet man im Internet.[4]

Wichtigster Konsens dabei bleibt immer noch: 8 Minuten nach der Alarmierung müssen 10 Funktionen an der Einsatzstelle vorhanden sein, 5 Minuten später weitere 6 Funktionen.

Diese Empfehlung wird von den meisten Bundesländern 1:1 in die Brandschutzplanung übernommen, beispielsweise im Saarland[5].

Hier alleine wäre es schon interessant nachzufragen, wie genau man aus einer Empfehlung für Berufsfeuerwehren (sic!) die Werte 1:1 für die Freiwillige Feuerwehr übernehmen kann, ohne sich damit auseinanderzusetzen, dass die Freiwilligen z. B. eine ganz andere Vorlauf- und Ausrückzeit hat bzw. nicht immer die geforderte Personalstärke vorweisen kann. Der Fragenkatalog ließe sich beliebig verlängern. Aber scheinbar kann man das wohl 1:1 einfach übernehmen.

Noch interessanter wird es, wenn sich die Grundlage der AGBF-Empfehlung anschaut. Das ist nämlich die ORBIT-Studie aus dem Jahr 1978.

Ohne sich an dieser Stelle näher mit der ORBIT Studie und der Kritik daran auseinanderzusetzen (ein interessanter Abriss ist der Text „O.R.B.I.T. – Ein lieb gewonnener Irrtum“[6]), bleibt festzuhalten:  Die Feuerwehr plant nach einem Schadensszenario auf der Grundlage einer 20 Jahre alten Empfehlung, die auf Grundlage einer 40 Jahre alten Studie erstellt wurde.

Wie bildet sich in dieser Empfehlung die Tatsache ab, dass das Verhältnis von technischen Hilfeleistungen zu Bränden sich von 2000 bis 2015 von 2,4 auf 3,1 verschoben hat? Warum sollte man sich immer noch ausschließlich an nur einem Szenario orientieren?

Und wenn die Feuerwehren konsequent an dieser Vorgabe ausgestattet werden, warum stagniert dann seit Jahren die Zahl der Brandtoten bei knapp 400?[7] Müsste dann nicht die Vorgabe kritisch geprüft werden, ob sie noch wirksam ist?

Was ist mit den technischen Entwicklungen der letzten Jahre? Wie dicht waren denn die Feuerwehren 1998 mit Wärmebildkameras ausgestattet? Wie hoch war der Ausstattungsstand mit tragbaren Lüftern? Und von 1978, dem Jahr der ORBIT Studie, wollen wir hier erst gar nicht anfangen.

Was ist mit den geänderten baulichen Gegebenheiten? Die Gebäude sind immer besser isoliert, es werden immer mehr Kunststoffe verbaut. Welchen messbaren Einfluss haben Rauchmelder? Eigentlich dürfte es, wenn man der Rauchmelderpropaganda glaubt, ja gar keine Brandtoten mehr geben.

Thema Orbit-Studie[8]: Dort wird die Reanimationsgrenze im Brandrauch auf 17 Minuten festgelegt. Grundlage war eine Studie mit 65 (sic!) Patienten! Dabei muss man sich im Hinterkopf behalten, dass 1978 der Rettungsdienst in Deutschland noch in den Kinderschuhen steckte. Alleine die Liste der Ausstattung und Verfahren, die es damals noch nicht gab, würde hier den Rahmen sprengen.

An dieser Stelle bleibt einfach festzuhalten: Die Orbit-Studie gehört – aus meiner Sicht – in Mottenkiste. Auf dieser Grundlage kann man im Jahr 2018 keinen seriösen Bevölkerungsschutz mehr anbieten.

Gleich eines vorweg: Ich will nicht den Eindruck erwecken, dass die Feuerwehren in Deutschland gar nicht forschen. So gibt es zu Beispiel TIBRO[9], ein Projekt, das genau in die Lücke stößt. Jedoch ist hier die Wirksamkeit in der Fläche auf absehbare Zeit nicht zu erkennen. (Und mal unter uns, wer kennt TIBRO?)

Das Problem aus meiner Sicht ist, dass es niemanden gibt, der die Rolle der ERC für die Feuerwehr einnimmt. Jemand, der unterschiedliche Studien auswertet und daraus Handlungsempfehlungen macht.

Und dann, zu aller Letzt kommt das größte Problem, weshalb „evidenzbasierte Feuerwehr“ in Deutschland scheitern muss. Machen wir wieder ein einfaches Gedankenexperiment: Stellt euch vor, morgen gäbe es eine Handlungsempfehlung, die auf einer Studie einer großen Berufsfeuerwehr am anderen Ende der Republik beruht. Diese Studie stellt euer bisheriges „bewährtes Verfahren“ als hochgefährlich da und schlägt eine sehr ausbildungsintensive Alternative vor.

Den Rest kann sich jeder ausmalen.

Fußnoten

[1] https://www.erc.edu

[2] https://www.grc-org.de/

[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Evidenzbasierte_Medizin

[4] https://www.google.de/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=2&cad=rja&uact=8&ved=0ahUKEwjAjPnqlszZAhXJsKQKHSCRBswQFggyMAE&url=http%3A%2F%2Fwww.agbf.de%2Fdownloads-ak-grundsatzfragen%2Fcategory%2F43-ak-grundsatzfragen-oeffentlich-grundsatzpapier.html%3Fdownload%3D148%3A2015-11-empfehlung-der-qualitaetskriterien-fuer-die-bedarfsplanung-in-staedten&usg=AOvVaw1-hhwGc5WqQc2PzEPliJ6v

[5] http://www.vorschriften.saarland.de/verwaltungsvorschriften/vorschriften/03_1786.pdf, Seite 4 oben

[6] http://www.f-sim.de/?p=2287

[7] http://www.feuerwehrverband.de/statistik.html

[8] http://www.luelf-rinke-sicherheitsberatung.de/fileadmin/downloads/sicherheit/Feuerwehrsystem-Orbit.pdf

[9] http://www.tibro-sicherheitsforschung.de/

Über den Autor

Florian Besch, war von 1997 bis 2012 in der Freiwilligen Feuerwehr und ist seit 2014 in einem Ortsverband des THW  aktiv. Von 2000 bis 2004 war er Soldat auf Zeit, von 2004 bis 2005 erfolgte die Ausbildung zum Rettungsassistenten, von 2017 bis 2018 erfolgte die Fortbildung zum Notfallsanitäter.