Ray Bradburys Klassiker Fahrenheit 451 aus der Bücherkiste geborgen

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„When the firemen come“ by strangepuppy on flickr / CC2.0

Gibt es überhaupt noch etwas über ein Buch zu schreiben, das im gleichen Atemzug mit Huxleys „Brave new world“ oder Orwells „1984“ genannt wird? Ein Buch, über das bereits unzählige Kritiken publiziert und Interpretationen diskutiert wurden, welches sogar als dystopischer Klassiker zur Pflichtlektüre in den Schulen zählt? Ein Buch, das von bestimmten gesellschaftlichen Kreisen auch heute noch gebrandmarkt und verbannt wird!1 Kurzum, die Antwort lautet: ja! Im Grunde lässt sich die Motivation für diese Buchbesprechung mit den Worten zusammenfassen: Fahrenheit 451 ist aktueller denn je – und hat auch mit Feuerwehr zu tun.

„Ist es wahr, dass die Feuerwehr einst Brände bekämpfte, statt sie zu entfachen?“2

Fahrenheit 451 spielt in einem Amerika der Zukunft, in dem der Besitz und das Lesen von Büchern als schweres Verbrechen gelten, denn Bücher zählen als Hauptursache für nicht systemkonformes Denken und Handeln. Selbstständiges Denken, Bildung bedeuten Gefahr, da es zu anti-sozialem Verhalten führe, die Gesellschaft destabilisiere und die Revolution herbeiführe. Ziel des Staates ist das allgemeine Glück und dazu müssen alle Menschen intellektuell gleich sein. Drogen und Videowände dienen dazu, die Bevölkerung unmündig und getreu der römischen Maxime „Brot und Spiele“ bei Laune zu halten.

Aufgabe der Fire brigade ist es, Bücher mithilfe von Denunzianten und Maschinen aufzuspüren und an Ort und Stelle, mitsamt dem Haus zu vernichten und deren Besitzer zu jagen. Guy Montag ist mit Leib und Seele Fireman3, der dem System zunächst kritiklos gegenübersteht, dann jedoch heimlich, die während seiner Einsätze gestohlenen Bücher in seinem Haus versteckt und liest.

Drei Ereignisse führen bei Guy zu einem Sinneswandel: Die Begegnung mit der nicht-konformistischen, selbstständig denkenden Clarisse, die ihn nach dem Glück fragt, und der mutmaßliche Selbstmordversuch seiner Frau Mildred lassen in Guy Zweifel ob seiner Ansichten und der Medienrealität aufkommen. Ihm dünkt, dass die allgegenwärtigen, televisuellen Medien nicht über alles berichten, wie z.B. den Krieg, in dem sich sein Land offenkundig befindet.

„Zum ersten Mal wurde mir klar, dass hinter jedem Buch ein Mensch steht.“4

Ein drittes Ereignis vertieft seine Skepsis: Bei einem von seinen nächsten Einsätzen wählt eine Frau lieber den Freitod, indem sie sich mit ihren Büchern verbrennen lässt, als sich dem konformistischen Druck des politischen Systems zu unterwerfen. Guy bleibt am folgenden Tag traumatisiert der Arbeit fern. Hauptmann Beatty, Guys äußerst eloquenter und belesener Vorgesetzter, sucht ihn kurze Zeit später auf. Beatty weiß, dass Montag Bücher hortet und am System zweifelt, ein Zustand, den jeder Feuerwehrmann im Laufe seiner Dienstzeit durchlebe, so Beatty. Er selbst habe auch Bücher gelesen, konnte in ihnen jedoch nichts Nützliches entdecken.

In einem langen Gespräch legt Beatty Guy den Ursprung der herrschenden Verhältnisse dar. Nicht die Regierung, sondern schrittweise gesellschaftliche Veränderungen führten zum Verbot von Literatur und selbstständigem Denken. Unter dem Eindruck von Marktmechanismen, der allmählichen intellektuellen Nivellierung und dem Schutz von Minderheiten, rief die Gesellschaft selbst nach staatlicher Zensur. Nur wenn alle gleich seien, es nichts besonders gebe, nur dann gebe es Glück. „Da hast du’s Montag. Es kam nicht von oben, von der Obrigkeit. Es fing nicht mit Verordnungen und Zensur an, nein! Technik, Massenkultur und Minderheitendruck brachten es gottlob ganz von allein fertig.“5

Fahrenheit 451

„Fahrenheit 451“ by Jessica Wissel on flickr / CC2.0

„Ein Buch im Haus nebenan ist wie ein scharf geladenes Gewehr.“6

Halb im Wahn, besessen von Büchern, trunken von seiner Skepsis gegenüber dem System, liest Guy zunächst seiner Frau und später auch in Gegenwart ihrer Freundinnen aus Büchern vor, und das, obwohl Guy von seinem Mentor, dem pensionierten Literaturprofessor Faber, gewarnt wurde, sich unauffällig zu verhalten. Die Damen fühlen sich sichtlich unwohl, stört Guy sie doch beim Konsum ihrer Lieblings-TV-Soap. Mildred denunziert Guy schließlich bei der Fire brigade. Zur Strafe soll Montag sein Haus mit allen Büchern verbrennen, stattdessen richtet Guy den Flammenwerfer auf Beatty, tötet ihn und flieht.

Faber hilft Guy in die Wälder außerhalb der Stadt zu fliehen, in dem sich eine Gruppe von Akademikern aufhält, die einmal gelesene Bücher im Gedächtnis bewahren, um sie vor dem Vergessen zu retten. Noch während Guy sein Buch – die Bibel – auswendig lernt, zerstört ein Fliegerangriff die Stadt. Kurze Zeit später kehrt die Gruppe in die Stadt zurück und hofft auf einen Neubeginn mit den Überlebenden.

„Vielleicht helfen die Bücher uns halbwegs aus dem Dunkel.“7

Bücherverbrennungen hat es in der Geschichte der Menschheit immer gegeben und es gibt sie noch immer.8 Richteten sich diese in der Geschichte unter verschiedenen Deckmänteln entweder gegen bestimmte Werke oder Autoren, verbrennen die Firemen in Fahrenheit 451 die Gesamtheit aller Bücher. Das Buch, die Literatur ist für Bradbury aber ein Kulturgut, Träger von Wissen, Grundlage von Bildung, Keim selbstständigen Denkens und Quelle eigener Ideen und Meinungen.

Die staatlich organisierte Bücherverbrennung in Fahrenheit 451 steht bei Ray Bradbury für das bewusste Desinteresse an Literatur und ist damit Parabel über die subjektiv perzipierte Kulturvergessenheit der amerikanischen Gesellschaft der 1950er Jahre.

Fahrenheit 451 "Read & Destroy!"

Fahrenheit 451 „Read & Destroy!“ by John Keogh on flickr / CC2.0

Are You or have you ever been a member of the communist Party?”9

Zwei gesellschaftliche Entwicklungen und ein persönliches Erlebnis stehen hinter Bradburys Gedankenexperiment. Die starke Verbreitung des Fernsehens beeinflusst die Gesellschaft ebenso, wie die Auswirkungen der McCarthy-Ära. Zu den amerikanischen Grundwerten gehören Individualismus und Selbstbestimmung, die, bei dem in der McCarthy-Ära erzwungenen Konformismus, jedoch keine Beachtung finden. Abweichende Meinungen, insbesondere die, die auch nur den Anschein sozialistischer oder kommunistischer Argumente in sich tragen, verfolgt und unterdrückt der Staatsapparat mit aller Härte. Diese politische Hexenjagd, die schon lange vor McCarthy begann, sah Bradbury aus literarisch-akademischer Perspektive kritisch. Immerhin war es auch nur wenige Jahre her, dass der Nationalsozialismus Ideen unterdrückte und Heinrich Heines 1821 ausgesprochen Warnung „Wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch bald Menschen“ Realität werden ließ.

Die Auswüchse staatlichen Sicherheitsdenkens erlebte Bradbury zur gleichen Zeit während eines abendlichen Spaziergangs, als er von einem Polizisten kontrolliert und aufgefordert wurde, das Spaziergehen zu unterlassen.

„Kultur in dem normativen Sinn, an den zu erinnern nötig ist wie nie zuvor“10

Fahrenheit 451 selbst ist weniger Warnung vor einem autoritären Staat, als mehr Kulturkritik, Warnung vor den Massenmedien, Warnung vor der Konsumgesellschaft, Warnung vor der selbst gewählten Unmündigkeit. Bradbury konservatives Weltbild und sein Kulturpessimismus kennen keine Muße, kein Vergnügen, weshalb er alles Neue als Gefahr für die geistige Entwicklung einstuft und die Konsequenzen Neuer Medien interpoliert. Bradburys Reaktion, seine Argumente in Bezug auf das Fernsehen sind nicht neu, denn schon in der Antike sah Sokrates im Aufkommen der Schrift den Beginn des geistigen Verfalls; in der frühen Neuzeit galt der Buchdruck als Niedergang der Kultur, ebenso wie das Aufkommen von Radio und wenig später dem Fernsehen. Ähnliche Argumente begleiteten übrigens die Verbreitung des Internets und der Zuspruch zum Web 2.0.11

Ray Bradbury (1920-2012) war ein US-amerikanischer Schriftsteller und Drehbuchautor, zu dessen Schwerpunkten Science-Fiction, Horror und Phantastik zählten. Photo by Alan Light on Wikipedia / CC2.0

„Die Tyrannei kommt ohne Glauben aus, die Freiheit nicht“12

Über den Staat selbst verliert Bradbury nur wenige Worte, er ist auch nicht Fokus seiner Überlegungen. Der Staat ist nicht totalitär im eigentlichen Sinne, denn es gibt Wahlen und „Opposition“. Allerdings ist der Souverän ziemlich dumm, sodass er sich von den durch die Regierung kontrollierten Massenmedien steuern lässt. Aus Apathie heraus überträgt man die Macht dem Leviathan, um eine Analogie zu Thomas Hobbes13 herzustellen, um selbst keine unliebsamen Entscheidungen treffen zu müssen. Aber genau diese sich selbst entmündigende Bevölkerung sieht Bradbury durch die gesellschaftlichen Entwicklungen seiner Zeit heraufziehen. Es sieht ganz so aus, als ob der größte Feind einer Gesellschaft sie selbst sei, ihre Ignoranz gegenüber anderen Meinungen, ihre Apathie gegen staatliche Repression und dem Reflex nicht alles wissen zu wollen. Die tocquevillesche „Tyrannei der Mehrheit“, eine Übereinkunft aus Oberflächlichkeit, Selbstverliebtheit, Teilnahmslosigkeit, Interesselosigkeit und Ignoranz, bilden in Fahrenheit 451 einen Totalitarismus durch Konformismus.

„Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst“14

Und genau gegen diesen Prozess wendet sich Bradbury. Er schreibt gegen die seiner Ansicht nach um sich greifende Denkfaulheit und geistige Inflexibilität seiner Zeitgenossen und tritt offensiv für Meinungsfreiheit – eines der wichtigsten amerikanischen Werte – und für kritisches Denken ein.

Bradbury wirft in seiner Novelle die Frage auf, was das Wesen des Glücks ist. Die von ihm in der Handlung aufgeworfene Frage nach dem Wesen des Glücks lässt sich insofern beantworten, dass er das individuelle Wissen als wichtiges Element des Glücks versteht. Glück bedeutet Freiheit und Vorhandensein von Unterschieden, weil Glück eben individuell ist, so wie jede Meinung.

„Bleistift, Papier und Bücher sind das Schießpulver des Geistes“15

Aus heutiger Sicht klingt die eigentümliche Wortwahl der deutschen Übersetzung anachronistisch, so wie sich auch die fehlende Spannung bemängeln und eine stringente Handlung vermissen lässt, entscheidend ist jedoch die inhaltliche Aussage von Bradburys Gedankenexperiment, die aktueller denn je scheint.

Ohne Bradbury restlos zuzustimmen, lässt sich seine moralisierende und warnende Kritik auch im 21. Jahrhundert einbringen: Der Verlust der Lese-16 und Schreibkompetenz17, die Zunahme stupider Shows als bloße voyeuristische Unterhaltung („Hartz IV-TV“, „Reality-TV“) sowie die in immer schnelleren Zyklen in Kraft tretenden Schulreformen, die nichts anderes als „reduzierte Bildungsprogramme“ sind,18 zeigen, dass Bradburys Streitschrift aus den 1950er Jahren auch gegenwärtig kaum an Aktualität eingebüßt hat. Mehr denn je scheint selbstständiges Denken in Gefahr zu sein – und nicht erst seit Überwachungsexzessen staatlicher Stellen.

Bei Bradbury ist die Fire Brigade ungefähr das, was bei Orwell die Gedankenpolizei ist, mit dem Unterschied, dass in Bradburys Gesellschaft nicht das ausgemerzt werden soll, was wir denken, sondern Themen gesetzt werden, worüber wir denken. In dieser Lesart war Bradbury seiner Zeit wohl ein wenig voraus, denn augenblicklich ist genau dies die Taktik spezieller staatlicher Organisationen.19

Bradbury sieht im Fernsehen das Sinnbild für den Verlust zwischenmenschlicher Kommunikation, lieber reden die Bürger mit ihrer „TV-Familie“, als mit ihrem Partner. Fast spiegelbildlich lässt sich diese Befürchtung auf die Online- und Chat-Aktivitäten der heutigen Generation übertragen. Auch die Argumente, die vor kulturellen Konsequenzen Neuer Medien warnen, bleiben im Zeitalter von Facebook, Playstation und Smartphone annähernd die gleichen. „Früher war immer alles besser“ – der Kulturpessimismus scheint eine Konstante, die jeden technischen Fortschritt begleitet und gesellschaftliche Veränderungen aus der Retrospektive vergleicht.

Fußnoten

1 Wikipedia (eng) Abschnitt Censorship/Banning Incidents

2 S. 17 Clarisse zu Guy Montag

3 In der englischsprachigen Originalversion bekommen die firemen (Feuermänner) und die fire brigade (Feuergruppe) nun die ihrer wörtlichen Bezeichnung entsprechende Aufgabe.

4 S. 60 Guy Montag zu seiner Frau Mildred

5 S. 66 Hauptmann Beatty zu Guy Montag

6 S. 67 Hauptmann Beatty zu Guy Montag

7 S. 83 Guy Montag zu seiner Frau Mildred

8 Thema Bücherverbrennung in der Wikipedia (deu)

9 Frage, die ab 1947 jeder beantworten musste, der vor einen der verschiedenen Untersuchungsausschüsse wegen des Verdachts auf „unamerikanische Tätigkeit“ zitiert wurde.

10 Peter Sloterdijk: Die Verachtung der Massen. Versuch über Kulturkämpfe in der modernen Gesellschaft, S. 77.

11 Z.B. Christian Raupack: Kulturkritik des Web 2.0

12 Alexis de Tocqueville

13 Thomas Hobbes: Der Leviathan in der Wikipedia (deu)

14 Voltaire

15 Neil Postman

16 Artikel auf Zeit.de zum Thema Lesekompetenz

17 Artikel auf heise.de zum Thema Schreibkompetenz

18 Wobei diese Ansicht sehr subjektiv ist. Zwar stöhnt die Republik unter jeder neuen PISA-Studie (Spiegel Online), an allen Ecken und Ende postuliert man den Bildungsnotstand (Welt.de), andererseits fühlen sich Schüler schlecht auf die Post-Schulzeit vorbereitet (Welt.de).

19Vergleiche hierzu die Aussage der türkischen Journalistin Zeynep Tufekci, dass Regierungen unser Denken auf subtile Art verändern wollen und hierzu eben nicht orwellsche Methoden anwenden, sondern die Meinungsbildung im Web 2.0 beeinflussen (io9.com). In genau diese Richtung zielt ein Projekt des britischen Geheimdienstes GHQC, der Themen, in dem Fall die Diskreditierung von Personen, gezielt setzen, und damit Denken und Handeln der Bürger steuern will (The Intercept).

Bibliografische Daten

Ray Bradbury: Fahrenheit 451. Aus dem Amerikanischen von Fritz Güttinger. Zürich: Diogenes 1996. ISBN 3-257-22904-6; kartoniert.

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